Ganz
wie die genialen Dichter der Bühnenkunst waren sie sich bei dem
Erleben jener von ihnen frei erdachten Handlungen durchaus der Tatsache
bewußt, daß es sich hierbei nur um ein geistig-sinnliches
Erleben handelte welches sie zu jeder Zeit kraft eigener Entscheidung
nach freiem Entschluß abzuändern oder zu beenden vermochten.
Doch
hat solch hohe Erlebnisfähigkeit sittliche Konse-quenzen für
das Handeln des einzelnen.
Deshalb konzentrierten sich unsere Vorfahren bei ihrer sittlichen Ausbildung
auch erst einmal auf die Schulung ihrer innergeistigen Vorstellungskraft.
Und
den praktischen Nutzen solcher gezielter geistiger Übungen für
den gesellschaftlichen Alltag wollen wir uns an dem folgenden einfachen
Beispiel einmal vor Augen führen:
Betrachten
wir den krassen Fall des Schlagens: Einer schlägt einen anderen
und tut diesem weh er macht beim Schlagen nicht selbst die Erfahrung
des Geschlagenwerdens und des Schmerzes, welchen der andere durch die
Schläge verspürt.
Der
in seiner geistigen Vorstellungskraft Geübte jedoch macht alleine
schon bei seiner geistigen Vorstellung, daß er den anderen schlägt,
einerseits die lebendige Erfahrung, daß er schlägt
aber auch gleichzeitig die unangenehme Erfahrung, daß er geschlagen
wird.
Und
dies hat dann natürlich für sein tatsächliches äußeres
Handeln weitreichende Konsequenzen: er ist sich des Ausmaßes seiner
Handlung und vor allem: der damit verbundenen Erfahrung vollständig
bewußt: er erlebt die ganze Geschichte mitsamt aller
Erfahrungen schon in seiner Vorstellung so klar und deutlich, daß
ihm daraufhin jene tatsächlich durchgeführte physische Handlung
zumindest in seinem eigenen persönlichen Erleben keinen neuen Eindruck
liefern würde.
Er macht also alleine bei seiner innergeistigen Vorstellung, daß
er schlägt, auch schon gleich die ganz konkrete, für ihn völlig
reale Erfahrung, daß er geschlagen wird.
Und
so verpflichtet ihn diese unangenehme Erfahrung des Geschlagenwerdens
bei seinem ersten Gedankengang, anders zu denken.
Und auf dieser Grundlage wird er dann folglich auch anders handeln;
denn kein Mensch kann handeln, ohne erst einmal zu denken. Jede Handlung
wird vorher durchdacht.
Deshalb
ist das sittliche Ausbildungssystem unserer Vorfahren so angelegt, daß
es dem einzelnen schon alleine beim ersten Überlegen einer Handlung
die vollständige eigene Erfahrung des Handelns vermittelt
ihm aber damit auch gleichzeitig das vollständige Erleben anderer
an dieser Handlung Beteiligter mitliefert.
Aus
diesem Grunde wird es schließlich das ganz natürliche Bemühen
des einzelnen sein, eine jede seiner Handlungen schon im Ansatz seines
Denkens so zu planen, daß niemand von der Handlung verletzt werden
kann denn nur so bleibt auch ihm selbst das Erleben seiner eigenen
Verletzung während seiner Planungen erspart.
Hierin
liegt der traditionelle sittliche Schlüssel unserer Vorfahren für
die soziale Ausbildung.
Eine schwache Andeutung von diesem Vermögen, sich in die Lage eines
anderen vollständig hineinzuversetzen, finden wir noch in den Worten
Mitgefühl oder Mitleid vor.
Aber das tatsächliche Erleben des gesamten Ausmaßes unseres
Handelns nur alleine aufgrund unserer innergeistigen Vorstellung
ist uns mit dem Verlust der traditionellen sittlichen Ausbildungsprogramme
unserer Vorfahren abhanden gekommen.
Ein
weiteres Beispiel soll diesen Sachverhalt verdeutlichen:
Jeder
von uns kennt die Erfahrung, daß ihm die Mitteilung eines Ereignisses
auf den Magen schlägt. Wir kennen also das Phänomen
eines tatsächlichen physischen Unwohlseins alleine durch einen
geistigen Eindruck. Dies bekundet uns, daß unser Denken
in unserem Nervensystem schwerwiegende Reaktionen auszulösen vermag.
Deshalb
beinhalten die traditionellen sittlichen Ausbildungs-programme unserer
Vorfahren eine systematische und gezielte Bildung der Erkenntnis- und
Schaffensfähigkeit im objektiven Sinne , welche bis
in den physischen Bereich unserer Existenz hineinreicht.
Wenn
also um auf das vorige Beispiel zurückzukommen ein
sittlich gebildeter Mensch unter unseren Vorfahren auch nur den Gedanken
hegte, einen anderen zu schlagen, dann machte er aufgrund seiner
sittlichen Bildung beim Durchdenken dieses Gedankens auch schon
bei sich selbst die physische Erfahrung des Schlagens und des Geschlagenwerdens.
Nur
in diesem automatischen Erleben des gesamten Aus-maßes
eigenen Handelns auch schon alleine bei der Vorstellung beispielsweise
des Schlagens sahen unsere Vorfahren eine reale Möglichkeit,
jenes soziale Fehlver-halten zu verhindern ja überhaupt
den Gedanken an das Verletzen zu bremsen.
Der
eine oder andere mag nun denken: Ich kann mir wohl vorstellen,
daß ich bei gezielter Ausbildung jene mit meiner eigenen Handlung
verbundene persönliche Erfahrung machen kann beispielsweise
die Erfahrung, daß ich selbst schlage.
Aber wie soll ich deshalb auch gleichzeitig die Erfahrung machen, daß
ich geschlagen werde? Und dazu auch noch automatisch?
Der
Traum zeigt uns sehr deutlich, wie beide Erfahrungen gleichzeitig möglich
sind: im Traum liegt der einzelne im Bett, hat die Augen geschlossen
und schläft bzw. träumt. Und was träumt er? Er träumt
sich selbst, aber gleichzeitig auch noch viele andere.
Diese
Tatsache bekundet, daß unser Vorstellungsvermögen und unsere
Erfahrungsfähigkeit nicht nur auf uns als eine einzelne
Person beschränkt sind.
Und
wie der Träumende oder wie der geniale Dichter , so
kann sich jeder sittlich Gebildete gleichzeitig in die Rollen und Erfahrungen
mehrerer Personen hineinversetzen sowohl hintereinander als auch
gleichzeitig. |